Thomas Larcher: Madhares
Thomas Larcher: Böse Zellen, Still, Madhares
Till Fellner (Klavier), Kim Kashkashian (Viola), Quatuor Diotima, Dennis Russell Davies (Dirigent), Münchener Kammerorchester
© ECM 2010
Werke
Böse Zellen für Klavier und Orchester (2006/rev. 2007)
Sehr langsam, attaca
Langsam, attaca
Viertel ca. 83, attaca
Viertel ca. 77
Still für Viola und Kammerorchester (2002)
Ruhig fließend – schneller, attacca
Ruhig fließend – schnell – ruhig fließend
Madhares für Streichquartett (2006/07)
I Madhares (Andante)
II honey from Anopolis (Adagio – attacca;)
III sleepless 1 (attacca:)
IV sleepless 2 – Madhares (Very fast)
V a song from? (Allegretto)
Thomas Larcher im Gespräch mit Anselm Cybinski
Anselm Cybinski: Welche Station stellt diese Aufnahme in Ihrer Laufbahn als Komponist dar?
Thomas Larcher: Eine Platte ist letztlich immer eine Zusammenfassung bereits absolvierter Stationen. Während die ersten beiden ECM-Alben Naunz (2000) und IXXU (2006) Werke für kleinere Besetzungen vorstellten, steht bei „Madhares“ Musik für Soloinstrumente und Orchester im Mittelpunkt. „Still“ von 2002 ist so etwas wie ein Startpunkt, „Böse Zellen“ von 2006/07 markiert ein weiteres Stadium meiner Arbeiten für größere Besetzungen – den Schritt hin zu einer Orchesterliteratur, die jetzt gerade entsteht bzw. teilweise vollendet aber noch nicht uraufgeführt ist. Und „Madhares“ vertritt das jüngste Stadium auf dem Gebiet der Kammermusik.
Anselm Cybinski: Der Titel „Böse Zellen“ ist einem Film entlehnt, „Still“ weckt natürlich Assoziationen an ein Film-Still, und auch das Quartett „Madhares“ scheint optische Eindrücke aufzunehmen. Welche Bedeutung hat das Visuelle für Ihr Komponieren?
Thomas Larcher: Ich kann mir vorstellen, dass meine Musik beim Hörer gewisse Bilder evoziert, aber für mich selbst sind es eher innere Vorstellungen und geistige Räume, die mich anregen, nicht so sehr konkrete sinnliche Eindrücke. Die Anregung schlechthin ist wichtig, im Sinne eines Impulses oder eines Stromstoßes – nicht so sehr die Charakteristika des anregenden Dings selbst. Insofern meint „Madhares“ auch weniger den so bezeichneten Landstrich im Westen Kretas, sondern vielmehr einen utopischen Ort, der weit weg von mir selbst ist – möglichst unerreichbar.
Anselm Cybinski: Offensichtlich beziehen sich die Stücke auf Genres wie das Solokonzert oder das Streichquartett, die viel an musikgeschichtlicher Tradition mitführen. Inwiefern gehen von diesen Traditionen solche „Stromstöße“ aus?
Thomas Larcher: Für mich als Pianist ist das Konzert eine sehr vertraute Konstellation, die mich dazu einlädt, sie zu hinterfragen, vor allem indem ich den Primat des Solisten in Frage stelle. In beiden konzertanten Werken, bei „Böse Zellen“ wie bei „Still“, handelt es sich um sehr aktive, eben nicht begleitende Orchester, deren Wucht öfters mal über den Solisten hinwegschwappt.
Anselm Cybinski: Identifiziert sich der Komponist Thomas Larcher mit dem Solisten? Schließlich sind Sie auch Pianist …
Thomas Larcher: Manche Leute haben die „Bösen Zellen“ als ein „wütendes Stück“ bezeichnet, was vielleicht bedeutet, dass hier eine Schicht meiner Persönlichkeit zum Vorschein kommt, die in meinem Leben sonst nicht so präsent ist. Diese Besessenheit, das Manische, dieses „das Räderwerk im Kopf nicht zum Stillstand bringen“, die Gedanken nicht stoppen können – das kenne ich schon. Aber es ist natürlich nicht so, dass der Solist mit meiner Person gleichzusetzen wäre…
Anselm Cybinski: Wie würden Sie Ihre Beziehung zu den hier verwendeten Instrumenten umreißen? Da ist die „stille“ Viola, daneben das präparierte also klanglich „maskierte“ Klavier. Nicht zu vergessen die edelste Gattung der Kammermusik, das Streichquartett!
Thomas Larcher: Ja, die Viola kommt für mich aus der Stille, aber es gibt auch eine gewisse Rauheit des Tons, eine ungeschminkte Seite, als bewussten Gegensatz zu all dem Elegischen, das so oft mit dem Instrument assoziiert wird. Das Klavier ist für mich natürlich eine komplexe Angelegenheit. Einerseits war da die Flucht aus dem brillanten in den maskierten Klavierklang. Dies durchaus auch im Sinne einer Erweiterung des Farbspektrums. Darum war es mir wichtig, die Präparierung mit der Verwendung einer großen Kugel noch weiter zu treiben und die De-Präparierung dann als entscheidenden Moment der „Bösen Zellen“ zu inszenieren. Auch das Perkussive am Klavier hat mich immer sehr interessiert. Auf der anderen Seite ist das Streichquartett für mich nach wie vor die anregendste und mit den meisten Assoziationen behaftete Konstellation, weil sie einerseits so pur ist, auf der anderen Seite aber so unglaublich facettenreich, oft auch orchestral. Die Möglichkeit der bruchlosen klanglichen Verschmelzung, und dann wieder die absolute Trennung der Stimmen beim Quartett – das ist schon einzigartig. Eine derartige Innigkeit und klangliche Geschlossenheit erreicht das Klavier nicht.
Anselm Cybinski: Sagen Sie ein Wort zur Zusammenarbeit mit Dennis Russell Davies?
Thomas Larcher: Dennis war ein Anreger und ein großer Ermutiger für mich, vor allem als er zwischen 1997 und 2002 das Radiosinfonieorchester Wien leitete. Er hat „Still“ initiiert und zusammen mit Kim Kashkashian und dem Stuttgarter Kammerorchester zur Uraufführung gebracht. Dennis sind die „Bösen Zellen“ gewidmet, er wurde eine der zentralen Gestalten für mich als Komponist, und er hat sich bei der Aufnahme wirklich in ungewöhnlichem Maß eingesetzt, wofür ich sehr dankbar bin.
Anselm Cybinski: Welchen Hörer wünschen Sie sich eigentlich für Ihre Musik?
Thomas Larcher: Ich denke an einen Hörer, der die Tradition der europäischen Klassik so weit „beherrscht“, dass er mit ihren Codes umgehen kann. Jemand der Verläufe und Formen einordnet und sich dennoch relativ unbedarft in eine klangliche Welt hineinbegibt. Ich suche einen Hörer, der ein dynamisches Verhältnis zwischen Intellekt und Emotionalität sucht und immer wieder neue Gegenüberstellungen dieser beiden Pole zulassen kann.
zitiert nach: www.ecmrecords.com