Madhares für Streichquartett (2006/07)

18′
3. Streichquartett
Auftragswerk der Internationalen Stiftung Mozarteum und Chamber Music Cincinnati
USA: 29.01.2008, Salzburg (AT), Mozartwoche Salzburg | Artemis Quartett


I Madhares (Andante)
II honey from Anopolis (Adagio – attacca;)
III sleepless 1 (attacca:)
IV sleepless 2 – Madhares (Very fast)
V a song from? (Allegretto)


Hörbeispiel

I Madhares

II honey from Anopolis

Quatuor Diotima | CD Madhares


Programmnotiz
Der aus Schwaz in Tirol stammende Komponist und Pianist Thomas Larcher war in letzter Zeit stark mit groß besetzter orchestraler Musik beschäftigt: dem in Linz uraufgeführten Violakonzert „Still“ , dem für die Düsseldorfer Symphoniker geschriebenen Werk „Heute“ für Sopran und Orchester, dem in Luzern aus der Taufe gehobenen Cellokonzert „Hier, heute“ und dem im Auftrag des Klavierfestivals Ruhr komponierten Konzert für Klavier und Kammerorchester „Böse Zellen“. Der Auftrag von der Internationalen Stiftung und von Chamber Music Cincinnati für ein Streichquartett hat es dem Komponisten zunächst schwer gemacht, aus der Orchestersprache in die Kammermusiksprache zurückzufinden.

In seinen Streichquartetten Nr. 1 „Cold Farmer“ (1990) und Nr. 2 „IXXU“ (begonnen 1998) hat Larcher die Viererschaft an Streichern oft wie ein einziges Instrument behandelt, „das wie eine Kugel durch die Gegend schießt und überall anstößt“. Ein rundes Etwas, nämlich ein Billardball, spielt auch im Streichquartett Nr. 3 „Madhares“ eine Rolle, nunmehr allerdings als real existierendes Material, mithilfe dessen im ersten Satz ein ganz besonderer Klang erzeugt wird, den Larcher brauchte, um wieder in die Streichquartettwelt zu finden. Ein Klang, der durch leises Klopfen des Balles auf den Saiten der Violine erzeugt wird. Der Geiger legt sein Instrument auf die Knie und hält es in der einen Hand, während die andere Hand mit dem Ball auf den meistens leeren Saiten eine Art Tremolo auf unterschiedlichen Stellen ausführt, wodurch sich die Tonhöhen verschieben. Statt des Billardballes kann der Musiker auch einen anderen runden Gegenstand, eine Münze, verwenden, dies ist ihm freigestellt. Der entstehende Klang ist in jedem Fall zart und leise, für den Komponisten ähnlich wie der Klang einer Mandoline. In „Madhares“ erfüllt dieser „artfremde“ Klang, über den die Musik langsam in den tatsächlichen Streicherklang hineinfindet, auch eine strukturbildende Funktion. Das, was hier ganz leise vorgegeben wird, trägt durch das unregelmäßige Tremolo bereits eine rhythmische Geschwindigkeit in sich, die dann im Verlauf der Komposition wirksam wird.

Denn die Geschwindigkeit ist ein entscheidender Faktor, durch den Larcher in diesem Streichquartett zu einer bisher für ihn in diesem Genre nicht gekannten, wagemutigen Kompositionsweise fand: Die Instrumente sind jetzt nicht mehr eine einzige Kugelgestalt, sondern vier autonome Individuen, die unabhängig voneinander spielen. Ja über weite Strecken vor allem des dritten Satzes verlangt der Komponist von jedem Musiker, in grenzgängerischer Freiheit ganz für sich zu spielen und nicht auf die Anderen Acht zu geben, also neben- und übereinander jeweils sein eigenes Tempo der rasenden Motorik zu finden und durchzuhalten. Eine freie Art des Spielens, aber nicht improvisiert, sondern einer vollständig ausnotierten Stimme folgend. Aus dieser selbst gefundenen Geschwindigkeit heraus sollen die Steigerungen zustande kommen.

Die Über-Steigerung konventioneller Spielweisen ist ein Grundthema des Komponisten Larcher, das in diesen Quartett-Passagen zum Ausdruck kommt. Aus den individuellen Extremsituationen finden die Musiker dann allmählich wieder zusammen, gleiten in längere Phasen von ein- und demselben Ton hinein – und kämpfen sich wieder frei. Mehrmals werden die Stadien von Autonomie und Miteinander durchlaufen. Wobei in der Partitur vermerkt ist, dass die hier mit extremen Schwierigkeiten und hohen spieltechnischen Anforderungen versehene Notation nicht exakt ausgeführt werden muss, sondern sie nur das Bild wiedergibt, wie sich der Komponist diese Passagen vorstellt. Die Musiker sollen die Idee der Musik umsetzen, indem sie die Partitur energetisch lesen und „dann mit der Geschwindigkeit heiß laufen, sich irrsinnig schnell drehend fortbewegen“ (Larcher). Ein neues Modell aleatorischer Spielweise.

Die Eindrücke an einem Küstenstrich der Insel Kreta, wohin sich Larcher zur Komposition des dritten Streichquartetts zurückzog, regten seine Fantasie an und versetzten ihn in Unruhe. Die Namen der Dörfer kündeten ihm von einer großen Zeit in der Antike: Von Finix wanderte der Komponist nach Anopolis, wo er Honig kaufte und die Gegend erkundete. Der Name Madhares und Fotos aus der Zwischenkriegszeit von einem oberhalb der Steilküste liegenden Ort tauchten auf.

Madhares wurde für den Komponisten zum Traumbild einer geheimnisvollen Vergangenheit. Eine melodische Musik in C und die Sehnsucht nach einem idealisierten Streicherklang in unerreichbarer Schubert-Ferne stiegen in Larcher auf. „Honey from Anopolis“ steht über dem zweiten Satz des Quartetts. Honig für die Ohren? Es gibt eine Entwicklung im Komponieren von Thomas Larcher, in der das Tonale eine Wichtigkeit nicht bloß als ein Strahl innerhalb des heute verfügbaren „atonalen“ Spektrums, sondern als tatsächlich musikalisch strukturbildende Ebene erlangt hat. Für Larcher gibt es auf dieser Ebene noch vieles zu erforschen. Auf dem Weg, der daraus hervorgeht, trachtet er sich unbedarft zu halten folgt allein dem, was mit ihm, dem Musiker und Menschen, zu tun hat. Die Tonalität gehört zu Larchers allgemeiner musikalischer Sprache dazu, als Teil der Technik, mit der er sich beschäftigt, und als Teil des Materials, mit dem er sich auseinandersetzt.
Der tonale Weg kreuzt im Streichquartett Nr. 3 jenen anderen Weg, der in den atonal-abstrakt-geräuschhaften Bereich führt. Können diese Wege nur nebeneinander verlaufen, oder führen sie an bestimmten Stellen zusammen? Eine Antwort hat Larcher mit dem Quartett „Madhares“ nicht finden wollen, er hat vielmehr das Disparate gesucht und dann darum gekämpft, alles in einer Form, „eine ganze Welt in einem Stück“ (Larcher) zu bündeln.

Auf die Schlaflosigkeit des dritten Satzes folgt – wieder Schlaflosigkeit. Denn unmittelbar schließt „sleepless 2“ an. Teile der kompositorischen Idee, die im dritten Satz nicht mehr Platz hatten, kommen im vierten Satz zur Entfaltung: ostinate Figuren, aus der sich die Motorik ergibt, aber auch Paarbildungen von Instrumenten. In der Überlagerung der Stimmen kommt es zu einer Bitonalität, wie sie den Komponisten in der Musik etwa von Arthur Honegger oder Darius Milhaud und auch in der Jazzharmonik immer faszinierte und der er nach wie vor eine funktionale Bedeutung auch für seine heute komponierte Musik zurechnet. Es ist ein assoziatives Suchen nach einer entgegen der seriellen Ansicht noch längst nicht ausgeschöpften klanglichen und harmonischen Verbindung. Erste Violine und Violoncello vollführen im vierten Satz gemeinsam einen unregelmäßigen Tanz, während die beiden Binnenstimmen eine Art Choral als Cantus Firmus spielen: einerseits eine irritierende Oberfläche, andererseits eine ruhige, melodiöse Führung – zwei Ebenen, die dann in der Instrumentenzuteilung umgedreht werden.

Die Geschwindigkeit mündet schließlich in dem Urklang, der sie enthält – dem Tremolo mit dem Ball oder der Münze auf den Saiten. In diesem Klang verschwinden die Motorik und die rhythmischen Extremwerte der Komposition. Die Spannung bleibt durch ein in den letzten Satz hinüber gezogenes Tonfeld aber erhalten, aus dem die Instrumente nach und nach mit einer schlichten Melodie hervortreten, einer utopischen Volksweise, die nur aus „weißen Tönen“ ohne Vorzeichen besteht: „a song from?“ – die Melodie verschwindet und löst sich in Rudimente auf.

Rainer Lepuschitz