Hier, heute für Violoncello, Orchester und Zuspiel-CD (2005)
22′
Text: Jean-Marc Bouju
Auftragswerk des Luzerner Sinfonieorchesters
UA: 09.11.2005, Luzern (CH) | Thomas Demenga (Violoncello), Jonathan Nott (Dirigent), Luzerner Sinfonieorchester
Besetzung
Violoncello solo; 3(2. auch Altfl., 3. auch Picc.)/2 Engl. Hr./3(2. auch Es-Klar., 3. auch Bassklar.)/2Kfg. – 4/3/4/1 – S.(3 Spieler) – Klav./Hfe. – Str.(12/10/8/6/4[2 mit 5. Saite])
Programmnotiz
„Als eingebetteter Journalist ist man wie ein Soldat. Man kann nirgendwo allein hin. Und wenn die Soldaten nichts tun oder nirgendwo hingehen, kann man es auch nicht. Wir saßen in der Wüste fest, als Bagdad fiel.
Als wir in der Wüste kampierten, hörte ich, dass die Brigade einige Gefangene bekommen hatte, die zum Verhör in ein anderes Camp geflogen werden sollten. Es waren etwa dreißig Gefangene und ein kleiner Junge. Die Soldaten brachten die Gefangenen von einem Lastwagen an eine mit Stacheldraht umzäunte Stelle und legten ihnen befehlsgemäß Handschellen an und stülpten ihnen Säcke über den Kopf, auch dem Vater des Jungen. Das Kind war entsetzt und fing an zu schreien. Einer der amerikanischen Soldaten schnitt dem Mann die Handschellen aus Plastik durch, damit er seinen Sohn beruhigen konnte. Ich konnte hören, wie der Mann, der selbst auch verängstigt war, seinem Sohn etwas in Arabisch zuflüsterte.
Die Armee konnte mir nicht sagen, wie der Mann hieß, und ich weiß nicht, was später mit ihm geschah, weil ich meine Fahrt fortsetzen musste. Ich versuchte etwas herauszufinden, aber da die Truppen auf ihrem Weg durch die Wüste zerstreut waren und die Kommunikation begrenzt war, ist es mir nicht gelungen.“
Dieser Text, der aus Interviewzitaten des amerikanischen Photographen Jean-Marc Bouju besteht, begleitete mich während der Zeit, in der ich „Hier, heute“ komponierte. Er bildete einen Gedankenraum, dem ich nicht entkommen konnte. Es war also nicht so, dass ich das Stück auf die Verwendung des Textes hin konzipiert hatte, aber ich konnte und wollte mich auch nicht davon lösen. So ist er im Lauf der Monate, in denen ich „Hier, heute“ komponierte, ein integraler Bestandteil des Werkes geworden. Deshalb habe ich mich entschlossen, den Text gegen Ende in Form einer CD-Zuspielung zu verwenden. Für mich ist es ein Text, der in seinen wenigen Sätzen enorm viel umfasst. Eigentlich unsere gesamte heutige Zeit, gesehen durch das Auge und durch die Kamera eines sensiblen und mitfühlenden Menschen. Er bezieht Stellung und zeigt die (wenn auch minimalen) Möglichkeiten des Einzelnen in einer Kriegsmaschinerie. Gleichzeitig verschließt er sich nicht vor dem absolut Katastrophischen dieses Kriegs und unserer Zeit.
Mir ist gesagt worden, das Stück sei ein vergebliches Anrennen gegen eine unauflösbare Situation. Das wird wohl stimmen, und wahrscheinlich stimmt es für die meisten meiner Kompositionen (und damit auch für mein Leben und für die meisten anderen Leben). Gegenüberstellungen von resignativen, erschöpften Zuständen und „Anrennbewegungen“ bilden die Struktur. Es gibt wenige Verbindungen, die einen Aufprall auflösen könnten. Ich habe beobachtet, dass das Stück eine tonale Struktur in sich trägt (im Sinn von subkutan verlaufenden „Orgelpunkten“), und dass es die Zuhörer mit tonalen Teilen abholen und mitnehmen will. Und außerdem wollte ich die rhythmisch-motorischen Möglichkeiten eines Orchesterapparates erkunden und ausloten. Gerade die sind ja bei so großen Ensembles sehr gering, und man muss sich auf einfache Strukturen beschränken. Diese jedoch so zu gestalten, dass sie dennoch interessant sind, das war meine persönliche Herausforderung.
Diese Herausforderung kann ich jetzt nur an das Luzerner Sinfonieorchester weitergeben, zu dessen 200-jährigem Jubiläum das Werk entstanden ist; und natürlich an Thomas Demenga und Jonathan Nott. Demenga, der Cellosolist, wird die Rolle des Individuums verkörpern, das im Prozess seine eigene Stimme verliert und sogar zum zynischen Motor des Katastrophischen wird, und Nott wird ohnehin so viel zu tun haben, dass er keine Zeit haben wird, sich über seine Rolle viele Gedanken zu machen.
Thomas Larcher, zitiert nach: www.schott-music.de