Böse Zellen für Klavier und Orchester (2006/rev. 2007)
Der [Komponist und] Erfinder des Tiroler Festivals „Klangspuren“, [Thomas Larcher], ist ein Schöpfer abgründiger Klangwelten, dazu ein glänzender Pianist. Er spielt sein heikles Klavierkonzert „Böse Zellen“ selbst und lotet somit Möglichkeiten aus, nach John Cage das „prepared piano“ anders zu positionieren. Beim Spielen verändert er Saiten- und Klangkonstellationen durch Eingriffe in den Flügel. Eine Stahlkugel zwischen Saiten konditioniert die zunächst zirpenden Töne, Glissandi bestimmen den Verlauf, wispernde, gedämpfte, verhinderte Klänge, Akkorde, Passagen lassen in ihrer Sperrigkeit aufhorchen. Als das Klavier zum schönen „Normalklang“, dem Melodischen zurückfinden will, bricht das Stück jäh ab.
aus: Wolfgang Schreiber: Tatkraft und Leben, Süddeutsche Zeitung, 14.05.2007
Der Österreicher Thomas Larcher, der sich mittlerweile zu einer weit beachteten Doppelbegabung – als Komponist und Pianist – entwickelt hat, bekam den genau formulierten Auftrag, mit seinem Klavierkonzert und zumindest von der Besetzung her auf eines der schattenhaftesten und opernhaft-dramatischsten Konzerte zu reagieren. Herausgekommen ist aber kein gespiegeltes Es-Dur-Konzert KV 482, sondern das knapp halbstündige Werk „Böse Zellen“, mit dem der 42-jährige Larcher einmal mehr unter Beweis stellt, wie sich angesichts eines ungemein ernsthaft gestalteten Stilpluralismus die Wahrnehmungsplatten nachhaltig verschieben können. Dafür setzt Larcher, der von Heinz Holliger und Isabel Mundry geprägt wurde, natürlich jetzt in den vier, nahtlos ineinander übergehenden Sätzen nirgendwo bekannte Orientierungspunkte, die auf eine Rückkehr der Postmoderne schließen lassen könnten.
Larcher schöpft vielmehr das Reservoir bestehender, musikalischer Konfliktpotentiale aus, um sie in subkutan hochdramatische und hörbar disparate Klangwelten zu verwandeln. Der Mozart’sche Orchesterkörper mit seinen Blech- und Holzbläsergruppen wird somit lediglich zum Sprungbrett in ein ganz und gar verunsicherndes Psychogramm, in dem Kräfte und Energien des Verzagens, der Resignation, der Einsamkeit herrschen. Wie schon in früheren Kompositionen reflektiert Larcher mit „Böse Zellen“ gleichzeitig Außermusikalisches, um es unter seiner kurz geschorenen Schädeldecke und nun auch bei der Uraufführung in der Essener Zeche Zollverein in seinen Pianistenhänden rumoren zu lassen. Pate stand der gleichnamige Film „Böse Zellen“ der österreichischen Filmemacherin Barbara Albert, in dem Beziehungen ungeschminkt an die Wand gefahren werden.
Entlang dieser morbiden Verstörtheit entwickelt Larcher sein Herz-Rhythmus-System, das im grellen Orchestersatz und in den motorisch beängstigenden Klavier-Repetitionen heftig pumpt, um am gefährlichen Rand der Stille seine Arbeit wieder fast einzustellen. Dass Larcher dabei mit seinen Klavierpräparationen genauso in die Fußstapfen von John Cage tritt, wie er die archaische Suggestivität des Georgiers Giya Kantscheli aufgreift, steht da für eine genau ausgehörte Bandbreite, die er unbeugsam perpetuiert. Im Zusammenspiel mit dem vom Widmungsträger geleiteten Münchner Kammerorchester hat Thomas Larcher so nicht nur für die Rehabilitation des Klavierkonzertes gesorgt. „Böse Zellen“ ist für die Möglichkeiten der Gattung zweifelsohne der zukünftige Wegweiser.
aus: Guido Fischer: Keine Beißhemmung mehr, Frankfurter Rundschau, 21.07.2006